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Zum Streik bei der Vivantes Service GmbH (VSG) - Nachtrag

Zum Streik bei der Vivantes Service GmbH (VSG) - Nachtrag

von Christian Frings (19.6.2018)

Nachtrag zu: Vom Elend des Klassenkampfes in Deutschland

Der Schluss meines Kommentars hat mit der Formulierung, ein „Ausbrechen aus dem gewerkschaftlichen Zwangsrahmen“ sei nötig, das Missverständnis aufkommen lassen, ich würde für ein allgemeines Verlassen der etablierten Gewerkschaften plädieren. Darum geht es aber gar nicht. Unter den jetzigen Bedingungen ist es in Deutschland kaum möglich, ohne eine etablierte und von Staat und Unternehmen anerkannte Gewerkschaft in den Streik zu treten. Tarifautonomie bedeutet hier juristisch, dass die Gewerkschaften das Monopol auf Streikführung haben. Jeder Streik ohne sie wäre sofort illegal und mit dem Risiko von Strafverfolgung und Schadensersatzklagen verbunden. Daher brauchen wir in vielen Fällen diese Gewerkschaften, um überhaupt in den Streik treten zu können. Es ist im Grunde genauso wie mit der Kfz-Versicherung fürs Auto – sie ist gesetzlich vorgeschrieben, damit ich Autofahren darf. Und streiken darf ich nur, wenn eine Gewerkschaft, die genügend Mitglieder im Betrieb hat, dazu aufruft.

Aber kein Mensch würde auf die Idee kommen, sich wegen dieser staatlichen Versicherungspflicht an seine Kfz-Versicherung zu wenden, um Demonstrationen gegen Benzinpreissteigerungen oder korrupte Autokonzerne zu organisieren. Das müssen wir schon selber tun. Genauso unsinnig ist es aber auch, von den juristisch mit dem Streikmonopol ausgestatteten Gewerkschaften zu erwarten, dass sie unsere Arbeitskämpfe effektiv und im Sinne unserer Interessen organisieren werden. Auch das müssen wir schon selber tun. Und sobald wir – oft nach erheblichen Anstrengungen, wie bei VSG – „unsere“ Gewerkschaft dazu gebracht haben, endlich für unsere Forderungen auch zu streiken, bestehen durchaus viele Möglichkeiten den Streik selber zu gestalten und wirksam werden zu lassen. Nur dürfen wir nicht in die Illusion verfallen, die Gewerkschaft würde uns dabei helfen oder konsequent auf unserer Seite stehen. Sie ist nur die Kfz-Versicherung für unseren Streik und genauso nüchtern wie unsere Kfz-Versicherung sollten wir auch sie betrachten.

Denn auch oder gerade im Streik folgen die Gewerkschaften einer völlig anderen Logik, die sich aus ihrem vorrangigen Interesse an der Stabilität der Organisation als Selbstzweck ergibt. Das Streikrecht ist in Deutschland durch kein Gesetz geregelt, aber durch eine sehr präzise und einschränkende Rechtsprechung der Gerichte. Diese besagt, dass sich Streiks an den Grundsatz der „Verhältnismäßigkeit“ halten müssen und das „Gemeinwohl“ nicht gefährden dürfen – andernfalls drohen einer Gewerkschaft gerichtliche Streikverbote oder Schadensersatzforderungen der Unternehmen. Außerdem ist die dauerhafte Anerkennung der Gewerkschaften durch die Unternehmer davon abhängig, dass sie auch während eines Streiks zeigen können, wie gut sie den Kampf kontrollieren und eingrenzen können. Dazu müssen sie sich im Streik den Beschäftigten gegenüber als kämpferische Führung präsentieren und gleichzeitig dem bestreikten Unternehmen glaubhaft vermitteln können, dass sie den möglichen ökonomischen Schaden eingrenzen werden – also genau das einzige Machtmittel, über das wir als Ausgebeutete verfügen, nur ganz dosiert einsetzen werden. Diese chamäleonhafte Vermittlungsfunktion der Gewerkschaften führt gerade in derart streikarmen Zeiten wie den unsrigen immer wieder dazu, dass sich streikende Belegschaften zunächst auf die „Streikführung“ der Gewerkschaft verlassen, erst allmählich und oft zu spät eigeninitiativ werden, um dann, nach Einsetzen erster Ermüdungserscheinungen, überrascht festzustellen, wie sie von „ihrer“ Gewerkschaft überrumpelt wurden. Genau das scheint beim VSG-Streik passiert zu sein: Die ersten drei Wochen dümpelte der Streik fast ohne irgendeine Öffentlichkeit oder spektakulären ökonomischen Schaden für das Unternehmen vor sich hin, um dann, als die Eigeninitiative und Selbstständigkeit der Streikenden zunahm, mit einigen Manövern von der Gewerkschaft vorschnell beendet zu werden.

In diesem Fall hat die Bezeichnung „vorschnell“ sogar einen ganz besonderen Geschmack, wie selbst in der Presse vermerkt wurde. Denn kurz nach dem Tarifergebnis, das gemessen an der langen Streikdauer von fast acht Wochen für viele reichlich unbefriedigend war, platze die Meldung in die Öffentlichkeit, dass der Landesrechnungshof Berlin (!) überhöhte Gehälter und Abfindungen für Manager bei Vivantes gerügt hatte. „Pech für die Arbeitnehmer, dass die Vorwürfe erst jetzt bekannt wurden: Vor einer Woche noch hätten die Berichte die Geschäftsführung in den Verhandlungen unter Druck gesetzt. Für Verdi wäre dann vielleicht mehr herauszuholen gewesen.“ (taz 3.6.2018)

Nun muss man sich das mal ganz praktisch vorstellen: Bevor der Landrechnungshof so eine Rüge ausspricht, muss er eine genaue Prüfung des Unternehmens und seiner Buchführung vorgenommen haben. Und so eine Prüfung kann in den Chefetagen und damit auch im Aufsichtsrat, in dem wiederum verdi vertreten ist, kein Geheimnis geblieben sein. Wie auch immer der Zeitplan organisiert worden ist – ob der Rechnungshof seine Meldung bis zum Streikabschluss zurückgehalten oder verdi einen verfrühten Abschluss vor der zu erwartenden Meldung durchboxt hat –, dieses timing kann offensichtlich kein Zufall gewesen sein und alle drei Parteien, also Staat (Rechnungshof), Unternehmen (Vivantes) und Gewerkschaft (verdi) waren in den Ablauf einbezogen. Aus der Perspektive des Wirtschaftunternehmens Gewerkschaft, das auf seinen Organisationserhalt achten muss, ist das ein völlig korrektes und sinnvolles Verhalten, mit dem es seine Orientierung an „Verhältnismäßigkeit“ und „Gemeinwohl“ unterstreicht. Der Unmut der Beschäftigten speist sich aus der Illusion, sie hätten mit ihrer Gewerkschaft diesen Kampf führen können.

Für die Eigeninitiative und Kampfkraft, die sie dann doch noch während des Streiks entwickelt haben, sind sie nun bitter abgestraft worden. Denn die selbst für gewerkschaftliche Verhältnisse äußerst lange Laufzeit und damit der „Friedenspflicht“ von 3 Jahren und 3 Monaten soll vor allem verhindern, dass nach einem Jahr, wenn die Erfahrungen des letzten Kampfs in der Belegschaft noch frisch und reaktivierbar sind, erneut die Frage im Raum steht, jetzt endlich für die Abschaffung der Spaltung in der Vivantes-Belegschaft zu streiken. Diese Logik ist zwar gut für das Unternehmen verdi, aber fatal für die weitere politische Entwicklung. Letzeres hat auch die taz in ihrem Kommentar zur Rüge des Landesrechnungshofs bemerkt: „Dabei gab es schon länger sehr wohl Geld zu verteilen, so die Erkenntnis nach der neuesten Meldung – aber eben nicht für alle: Die oben machen sich die Taschen voll, die unten lässt man zappeln, das ist der Eindruck, der hängen bleibt, sollte der Klinikkonzern die Vorwürfe nicht entkräften können. Wenn ein landeseigenes Unternehmen so agiert, muss man sich über Zweifel am System, über Frust und Politikverdrossenheit nicht wundern.“ Nur lässt die taz leider unerwähnt, dass die Gewerkschaften zu diesem Frust beitragen.

Die Frage ist also nicht, ob wir in diesen Gewerkschaften bleiben oder die Illusion hegen, andere Gewerkschaften könnten besser sein, oder aus ihnen austreten, sondern ob wir in voller Kenntnis der objektiv vorgegeben Funktion jeder Organisation, die einen Tarifvertrag und damit die Friedensplicht unterschreibt, selbstständig unsere Kämpfe führen und wirkliche Macht entfalten. Angesichts der juristischen und staatlichen Regulierung des Streikrechts werden wir in der jetzigen Situation dafür immer auch Organisationen benutzen müssen, die am staatlich zugewiesen Streikmonopol teilhaben – wir fahren ja auch nicht ohne Kfz-Versicherung mit dem Auto zu einer Demonstration. Was uns nicht davon abhält, so zu demonstrieren, wie wir es für richtig halten.

Warum sollte uns dann die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft davon abhalten, einen Streik von Anfang an in die eigene Hand zu nehmen? Hier hinkt der Vergleich natürlich, denn jede Gewerkschaft hat ein waches Auge darauf, jegliche Eigeninitiative aus der streikenden Belegschaft unter Kontrolle zu halten. Jede und jeder, der schon mal an einem Streik teilgenommen hat, kennt diese pathologischen Kontrollverlustängste der Hauptamtlichen. Ein wichtiges Mittel für die Ausübung dieser Kontrolle ist das Streikgeld. Denn viele Streikende denken im ersten Moment, dass sie im Streik nicht mehr für das Unternehmen, sondern für die Gewerkschaft arbeiten – schließlich zahlt die jetzt den „Lohn“. Und im Ernstfall sind Hauptamtliche ziemlich gut darin, entweder offen oder durch die Blume anzudeuten, dass die Auszahlung des Streikgelds davon abhängt, dass wir ihre Anweisungen befolgen. Daher müssen aktive Kerne in einer streikenden Belegschaft etwas pfiffiger vorgehen und diese Kontrolle des Apparats unterlaufen, ohne sofort in einen offenen Konflikt mit ihm zu geraten, der nur eine Verschwendung von Energie wäre und uns von den eigentlichen Aufgaben ablenken würde: Wie lassen sich unterstützende Kreise gewinnen, die uns bei einer selbstständigen Öffentlichkeitsarbeit helfen können? Wie können wir die heutigen Kommunikationsmittel – Smartphone und Internet – dazu nutzen, unsere eigene Pressearbeit zu machen, denn gerade die dürfen wir nicht der Gewerkschaft überlassen. Wie stellen wir Kontakte zu anderen rebellischen oder streikenden Belegschaften her, denn gerade die Struktur der Gewerkschaften reproduziert ständig die Trennungen und Spaltungen der lohnarbeitenden Klasse in einzelne Branchen, Sektoren, Fachabteilungen und vereinzelte Betriebe. Und vor allem müssen wir selbstständig und in vertraulichen Kreisen die betrieblichen Abläufe untersuchen, um herauszufinden, wo und wie der Streik den größten ökonomischen Schaden bewirken kann. Denn letztlich versteht das Kapital nur eine Sprache, die des Profits.

 

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