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Streiks im Einzelhandel

Zwei streikende Supermarktkassiererinnen während der Streikwelle 2007-08 am Alexanderplatz in Berlin

Streiks im Einzelhandel

6 Videos | 2013

Nachdem wir  2007/2008 über 18 Monate die härteste und längste Streikrunde im deutschen Einzelhandel beobachtet und mit der Kamera dokumentiert hatten (1), haben wir auch die nächste Streikrunde im Jahr 2013 aufmerksam verfolgt. Wie 2007/2008 stellten wir uns auch 2013 die Frage, wie es möglich sei, dass die Arbeitnehmer_innen im Einzelhandel sich seit Jahrzenten Flexibilisierung, Arbeitsverdichtung und Reallohnverluste gefallen lassen, ohne ihre Produktionsmacht auszuspielen und welche Rolle die Gewerkschaft ver.di dabei spiele.

Die Situation der Beschäftigten im Einzelhandel

- In der BRD arbeiten über zwei Millionen Menschen im Einzelhandel.
- In Berlin ist der Einzelhandel sogar der größte Arbeitgeber.
- In der letzten Tarifrunde 2007/2008 haben die Beschäftigten einen Teil der Zuschläge für Spät- und Nachtarbeit verloren.
- Die nach einer 18 Monate andauernden Tarifauseinandersetzung erkämpften Lohnsteigerungen lagen unterhalb der Inflationsrate.
- Zudem wird die Arbeit seit Jahren kontinuierlich verdichtet und flexibilisiert.

Die Tarifauseinandersetzung 2013

Vor diesem Hintergrund hatte die Kündigung der Manteltarifverträge am 30.4.2013 eine mobilisierende Wirkung unter den Beschäftigten."Ein solcher Angriff ist bisher einmalig." Neben den Kürzungen der Urlaubsansprüche, Sonderzahlungen sowie der Zuschläge für Spät-, Nacht- und Feiertagsarbeit, forderten die Arbeitgeber von Anfang an auch explizit Verhandlungen über eine weitere Flexibilisierung der Arbeitszeiten: Die Beschäftigten sollen dann kommen, wenn Arbeit da ist und nach Hause geschickt werden können, wenn keine da ist. Die Gewerkschaft kündigte Kampfmaßnahmen an und 25.000 Beschäftigte traten bundesweit in ver.di ein, um für die Wiederherstellung der Manteltarifvertrages und mehr Lohn zu kämpfen. Es gab bundesweit Streikaktionen, die nicht untereinander koordiniert waren. Deren Zentrum lag in Baden-Württemberg. Dort wurden einzelne Beschäftigte bis zu 50 mal zum Streik aufgerufen und es gab 80 Streiktage.

ver.di Berlin-Brandenburg: Nichts gelernt aus dem letzten Streik 2007/2008?

In Berlin-Brandenburg rief ver.di nur punktuell zum Streik auf. Wie in der letzten Tarifrunde vermied es die Gewerkschaft, durch strategisches Vorgehen Druck aufzubauen. Etwa die Warenlager zu bestreiken, sodass Montags die Regale in den Supermärkten leer wären, wie es eine Kolleginnen in der letzten Streikrunde vorgeschlagen hatten. Strategische Überlegungen einer real Mitarbeiterin:

Die Kaiser's Kassiererin Barbara E., bekannt als Emmely, war bis Anfang Dezember 2013 insgesamt drei mal zum Streik aufgerufen worden. Auf die Frage eines Journalisten wurde als Rechtfertigung für die wenigen Streiktage zu Protokoll gegeben, dass es zu wenig Sekretärinnen gebe, um mehr Streiks zu organisieren. - Es ist jedoch davon auszueghen, dass es auch daran liegt, dass die Selbsttätigkeit der Frauen an der Basis unterbunden werden soll, aus einer Haltung heraus, die in dem Film "Ende der Vertretung" von der Streikrunde 2007/2008 dokumentiert ist.

Die Entschlossenheit der Berliner Streikleitung, die Handlungsmacht der Beschäftigten nicht konsequent gegen die Arbeitgeberschaft in Stellung zu bringen, führt dazu, dass jede Tarifrunde mit einem Angriff der Arbeitgeber beginnt und mit Verlusten auf Seiten der Arbeitnehmer_innen endet. Die erkämpften Lohnsteigerungen bleiben z.T. unterhalb der Inlationsrate, auf jeden Fall aber immer unterhalb der für Geringverdiener_innen wichtigen Teuerungsrate von 5% im Jahr, sodass die Menschen, die im Einzelhandel arbeiten de facto immer ärmer werden und die Arbeit wird immer mehr verdichtet und flexibilisiert wird. - Die zahme Haltung von ver.di ist aber auch deshalb skandalös, weil ein beherzteres Vorgehen durchaus möglich wäre, da die Einzelhandelsbranche nicht mit Produktionsverlagerungen drohen kann und ihr deshalb ein in anderen Branchen gerne zumindest als Drohung ins Spiel gebrachtes Machtmittel fehlt.

Keine kritische Öffentlichkeit: Weder in bürgerlichen noch in linken Medien

Die Presse hat sporadisch über bestimmte Streikaktionen berichtet, ohne aber das Vorgehen der Gewerkschaft und den Streikverlauf kritisch unter die Lupe zu nehmen und vor allem ohne die Beschäftigten selbst zu befragen. Hier haben wir versucht mit unsere Videoberichterstattung eine Lücke zu schließen. Wir waren bei vier Streikaktionen dabei.

Im Oktober in Steglitz haben wir uns erklären lassen, dass für Warenverräumer auf den Spiel steht, bis zu 5 Euro die Stunde weniger zu verdienen und ihre Zuschläge zu verlieren:

Am 6. Dezember wurde ein Tarifabschluß für Baden Württemberg geschlossen. Obwohl eine Billiglohngruppe für Warenverräumer_innen eingeführt wurde, die ab April 2014 nur noch 9,74 Euro pro Stunde verdienen werden, bejubelte nicht nur die FAZ, sondern auch die junge Welt den Abschluß als Erfolg für die Beschäftigten. Die junge Welt empfiehlt ihn sogar zum Abschreiben für andere Bundesländer: "Plagiate erwünscht".

Die Kolleg_innen, die wir am selbe Tag interviewt haben, sind weniger begeistert: Ein Kollege, der bei Ikea als Gabelstaplerfahrer und Verräumer arbeitet, bedauert die Einführung einer Niedriglohngruppe für Verräumer_innen:

In unserem Clip von einer Streikkundgebung am 12.12.2013 in Oranienburg erklärt ein Betriebsrat von Kaufland, welche Konsequenzen dieser Abschluß im Betriebsalltag haben wird:

Zu den erfreulichen Seiten der Streikrunde in Berlin-Brandenburg gehörte die Unterstützung durch linke Gruppen aus dem Blockupy Bündnis: 

Für die Zukunft bleibt nur zu hoffen, dass sich linke Gruppen direkt mit den Arbeiter_innen zusammen organsieren, ohne ver.di als koordinierende Organisation angewiesen zu sein.

Die Beschäftigten hätten auch etwas zu sagen, nicht nur ver.di

In der Analyse der Beschäftigten die wir interviewt haben, werden zwei Punkte starkgemacht, die in der Berichterstattung ausgeblendet werden.

- Erstens, dass die Einführung einer Billiglohngruppe ein negatives und kein positives Faktum darstellt, weil sie es Unternehmen in Zukunft erlauben wird, festangesellte Verräumer_innen für weniger Geld arbeiten zu lassen als bisher. Dass sie als ausgelagerte Werksverträgler noch weniger verdient hatten macht die Sache nicht besser, sondern ist ein weiterer Beleg dafür, wie sehr die Standards in der Branche in den letzten Jahren gesunken sind.
- Zweitens wird der neue Tarifvertrag als troianisches Pferd mißbraucht werden, um nicht nur Verräumer_innen, sondern auch Beschäftigte, die andere Tätigkeiten ausführen, nach dem Billigtarif bezahlen zu können. Dass das illegal wäre, wird im Betriebsalltag vermutlich keine große Rolle spielen, da die Betriebsräte, die theoretisch in der Lage wären Legalität herzustellen, oft entweder nicht vorhanden sind oder beide Augen fest zudrücken. Ein Beleg für letzteres ist, dass bei allen Lebensmitteldiscountern regelmäßig und massenhaft unbezahlte Überstunden geleistet werden, - auch wenn es einen Betriebsrat gibt. 

Aus unserer Sicht ist es ein politisches Problem, dass es die Stimme der streikenden Kolleg_innen in kein einziges linkes Medium geschafft hat. Sie waren bestenfalls Statist_innen für die Berichte, in denen Gewerkschaftssekretärinnen ihre Sicht auf den Streik verlautbaren durften. Damit wurde die Chance vertan, während eines großen bundesweiten Streiks darzustellen, worum es für die Betroffenen wirklich geht. Durch unsere Berichterstattung wollten wir Öffentlichkeit für die Position der streikenden Kolleg_innen herstellen, ihre Beurteilung des Streikgeschehens und der Abschlüsse der Darstellung der Gewerkschaft gegenüberstellen und einmal mehr das zaghafte Vorgehen der Gewerkschaft problematisieren. Wir hoffen, dass linken Medien in Zukunft auch die Expertise und das Urteil der Arbeiter_innen einholen, bevor sie ein Verhandlungsergebnis oder einen Tarifabschluss bewerten.

 

 

(1) "Ende der Vertretung - Emmely und der Streik im Einzelhandel" beschreibt die Streikrunde im Einzelhandel 2007/2008. Der Film sucht nach Antworten auf die Frage, weshalb die Beschäftigten und ihre Organisationen nicht in der Lage sind, sich gegen die Arbeitgeber durchzusetzen. Er erkundet das Engagement der Arbeiter_innen im Streik und analysiert das Vorgehen der Streikleitung und die Rolle der Betriebsräte. Beschrieben werden auch die Interventionen linker Gruppen an der Seite der Streikenden.

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